Man schrieb das Jahr 1990, als uns die Durchquerung der westgrönländischen Halbinsel Nuugssuaq die Morphologie des Eises als ästhetisches Phänomen bewusst werden ließ.
Der Helikopter zog eine Schleife, um eine mögliche Landestelle zu sichten. Unter uns lag der Fjord, übersät mit Eisbergen. Dann wurden wir abgesetzt in der grönländischen Wildnis, vierzehn Tagesmärsche von der einzigen Inuit-Siedlung der Halbinsel entfernt – wenn alles gut ging. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Ästhetik arktischer Landschaft mit ihrer Kargheit und Reduktion auf das Wesentliche sollte in der Tiefe unserer Seelen Platz finden. Wir suchten gewissermaßen nach dem Dauerhaften hinter der vergänglichen Form oder nach dem Unvergänglichen im Vergänglichen. Meine Begeisterung für die Kryosphäre ist sicherlich schon in meiner Kindheit entstanden. Als richtiger Österreicher befuhr ich mit den Eltern in den 1970-er Jahren schon im Alter von sieben Jahren die „Großglockner Hochalpenstraße”. Aus der Sicht kindlicher Augen waren wir damals unglaublichen Abenteuern und Gefahren ausgesetzt: Tiefe Täler, die uns neben der schmalen Straße förmlich in die Tiefe ziehen wollten; überlastete Autos und Fahrer, die verzweifelt auf ihre rauchenden Motoren starrten; eine Besteigung der Pasterze, des größten Gletschers der Ostalpen, bei der die Luft selbst im Hochsommer eiskalt um unsere kurzen Lederhosen und das Dirndl blies. Im oberen Teil der Gletscherzunge sahen wir das furchteinflößende Spaltensystem des Hufeisenbruches. Nachdem ich den Kindheitsausflug Gott sei Dank überlebt hatte, steigerte sich durch die ergreifenden Erlebnisse mein Interesse für die Eissphäre. Frozen Latitudes zeigt als fotografische Kryogenesis arktischer Frozen Morphs scheinbar statische Eislandschaften mit einer unerwarteten Dynamik und vermitteln dadurch, dass unberührte Landschaft in sich wertvoll ist und keiner wirtschaftlichen Bewertung bedarf.
Kap Tirol, Wiener Neustadt Insel, Franz Josef Land
Genesis des Eises
Unter Kryogenesis versteht man die Prozesse rund um das Frieren und Auftauen von landschaftsbildenden Materialien. Sie bestimmen die Vielgestaltigkeit von Permafrost-Landschaften durch eine unerwartet große Anzahl von Frozen Morphs. Mein persönlicher Zugang resultiert aus den Wortteilen Kryo und Genesis: Bilder von Landschaften der Kryosphäre porträtieren Strukturen der Erdentwicklung – der Genesis – in der seit Urzeiten ausschließlich Naturkräfte wie Wind, Wasser, Eis und Schnee wirksam sind. Die gefrorenen Strukturen im Kleinsten wie im Größten zeigen die ästhetische Perspektive hocharktischer Landschaften. Diese über Jahrtausende gebildeten organisch wirkenden Formen präsentieren sich als unbeschreiblich schön und gleichzeitig bescheiden. Durch die Klimaerwärmung haben sich die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten mit einer bisher nicht gekannten Geschwindigkeit beschleunigt und führen zu einer fortschreitenden Transformation ursprünglicher Genesis-Landschaft in eine vom Menschen geprägte Kulturlandschaft. Frozen Latitudes berührt den Leser mit Fotos und Texten von Expeditionen nach Grönland und Franz Josef Land.
Eisberg in der Appolonva Bucht, Payer Insel, Franz Josef Land
Arktischer Winter
Die Skier erzeugen bei jedem Schritt über den zugefrorenen Fjord ein charakteristisches Knirschen. Der trockene Schnee dämpft dieses Geräusch des Winters, wenn er lose zwischen festen Wehen liegt; der harte, windverfestigte Schnee und aufgetürmte Meereishügel geben hingegen einen hellen, metallischen Klang von sich, der an aneinander reibende Keramikteile erinnert. Sonst sind keine Geräusche zu hören, außer dem eigenen Atem, vermischt mit einem schnellen Herzschlag, wenn wir die Weiten von Liverpool Land durchqueren. Ja, das ist der Herzschlag der Arktis! Der Himmel ist bleich, die Konturen werden schwächer. Die Sichtweite beträgt nur wenige Meter und die beiden Hundegespanne sind von den Dimensionen des Landes verschlungen – keiner der 28 Hunde ist zu sehen oder zu hören, um Eisbären auf Distanz zu halten. Was ist der Mensch in der Weite Nordostgrönlands? Ein atmender Herzschlag. An klaren Tagen müssen wir uns die Augen reiben, um uns zu versichern, dass es die Lichtbrechung hin zu dichteren, weil kälteren, bodennahen Luftschichten ist, die die Basis der Berge über den Horizont hebt. Die ohnehin schon beeindruckenden Bergspitzen der Stauning Alper in 140 km Entfernung werden vertikal überhöht zu einem Fantasy-Gebirge verzerrt.
Jameson Land, Nordostgrönland
Carlsberg Fjord, Wegener Halbinsel, nördliches Liverpool Land, Nordostgrönland
Ans wahre Ende der Welt
Die Expedition begann lange davor im Kopf, weil darin Träume entstanden, die die spiegelglatten Weiten der Sunde zwischen den Inseln im Licht der arktischen Nächte in die Virtualität des Geistes projizierten. Diese Eindrücke waren jedoch so real, dass ich sie viele Wochen danach vor Ort glaube wiederzuerkennen, obwohl ich sie nie zuvor gesehen habe. Im Kopf herrscht das passende Klima für die hunderten Inseln von Franz Josef Land, die selbst am Ende des arktischen Sommers völlig mit Gletschern und Schnee überzogen sind – wahre Frozen Morphs. Auf Greely Island werden die Überreste des bis dato unbekannten Expeditionslagers der Ziegler Expedition von 1902 entdeckt – Kane Lodge. Wir tauchen in völlig unerwartete Erlebnisse, die in anderen Ländern längst nicht mehr möglich sind. Franz Josef Land drängt mir unwillkürlich das Gefühl von Dankbarkeit und Bescheidenheit auf – dafür, ein Stück Erde – ein ganzes Land – noch fast unberührt von menschlichen Einflüssen erleben zu dürfen, gepaart mit der Erkenntnis, dass Zurückhaltung notwendig ist, um der Menschheit das Überleben zu ermöglichen. Werden wir den dauerhaften Wert unberührter Landschaft höher einzuschätzen lernen als deren kurzfristige wirtschaftliche Ausbeutung?
Wiener Neustadt Insel kurz vor Mitternacht, Franz Josef Land, Russland
FROZEN LATITUDES – Eine fotografische Hymne auf die Schönheit der Hohen Arktis
Das kürzlich im Seltmann und Söhne Verlag erschienene Fine Art Fotobuch ist im guten Buchhandel erhältlich.
- 288 Seiten über 30 Jahre Expeditionen in die Hohe Arktis
- 320 Fine Art Fotos von unglaublichen Landschaften, Panoramen, Natives und der Tierwelt
- Berührende Erzählungen auf Deutsch und Englisch
- Wissenschaftliche Perspektiven zur Kryosphäre über deren Beeinflussung durch den Klimawandel von Glaziologen des österreichischen Polarforschungsinstitutes APRI